Die EU-Mitgliedstaaten dürfen nur dann Sofortmaßnahmen gegen genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel treffen, wenn sie neben der Dringlichkeit ein offensichtliches und ernstes Risiko für die Gesundheit und die Umwelt nachweisen können. Hierauf weist der Generalanwalt des Gerichtshofs der Europäischen Union Michal Bobek in seinen Schlussanträgen hin.

Die Europäische Kommission ließ 1998 das Inverkehrbringen genetisch veränderten MON 810-Maises zu. In ihrer Entscheidung bezog sie sich auf eine Stellungnahme des Wissenschaftlichen Ausschusses „Pflanzen“, wonach es keinen Grund zu der Annahme gebe, dass dieses Erzeugnis eine Gefahr für Mensch oder Umwelt darstelle.

Im Jahr 2013 ersuchte die italienische Regierung die Kommission, den Anbau genetisch veränderten MON 810-Maises durch Sofortmaßnahmen zu verbieten. Sie begründete dies mit neuen wissenschaftlichen Studien zweier italienischer Forschungseinrichtungen. Die Kommission kam auf der Grundlage eines wissenschaftlichen Gutachtens der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit zu dem Ergebnis, dass es keine neuen wissenschaftlichen Beweise gebe, die die erbetenen Sofortmaßnahmen rechtfertigten und ihre früheren Feststellungen zur Sicherheit des MON 801-Maises in Frage stellten. Dennoch erließ die italienische Regierung 2013 ein Dekret zum Verbot des Anbaus von MON 810-Mais in Italien.

Im Jahr 2014 bauten Giorgio Fidenato und andere unter Verstoß gegen dieses Dekret MON 801-Mais an. Daraufhin wurde ein Strafverfahren gegen sie eingeleitet, in dessen Rahmen das Tribunale di Udine (Bezirksgericht, Italien) den EuGH insbesondere gefragt hat, ob auf der Grundlage des Vorsorgeprinzips Sofortmaßnahmen zulässig sind.

Generalanwalt Michal Bobek schlägt dem Gerichtshof vor, festzustellen, dass die Mitgliedstaaten nur dann Sofortmaßnahmen in Bezug auf genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel erlassen dürfen, wenn sie neben der Dringlichkeit eine Situation nachweisen können, in der wahrscheinlich ein offensichtliches und ernstes Risiko für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder die Umwelt besteht. Dies sei nach Art. 34 der Unionsverordnung über genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel (VO (EG) Nr. 1829/2003) erforderlich.

Nach Auffassung des Generalanwalts ist Art. 34 VO (EG) Nr. 1829/2003 eine konkrete Ausprägung des Vorsorgeprinzips im spezifischen Kontext genetisch veränderter Lebens- und Futtermittel in dringlichen Fällen. Das Vorsorgeprinzip des Lebensmittelrechts (Art. 7 VO (EG) Nr. 178/2002) erlaube es den Mitgliedstaaten, Sofortmaßnahmen zu treffen, um Risiken für die menschliche Gesundheit zu vermeiden, die aufgrund wissenschaftlicher Unsicherheiten noch nicht vollständig erkannt oder nachvollzogen worden sind.

Dieser allgemeine Grundsatz ändert nach Ansicht des Generalanwalts jedoch aus mehreren Gründen nichts an den eindeutigen Voraussetzungen des spezielleren Art. 34 VO (EG) Nr. 1829/2003. Erstens verlange der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit, der insbesondere bei Verhängung strafrechtlicher Sanktionen durch die Mitgliedsaaten von Bedeutung ist, dass die staatlichen Stellen ausschließlich in den gesetzlich festgelegten Grenzen handeln. Zweitens müsse eine Verordnung in allen Mitgliedstaaten einheitlich ausgelegt und angewandt werden. Drittens beträfen das Vorsorgeprinzip und Art. 34 VO (EG) Nr. 1829/2003 verschiedene Bereiche, da Art. 34 VO (EG) Nr. 1829/2003 anders als das Vorsorgeprinzip konkret für genetisch veränderte Erzeugnisse gilt, die vor ihrem Inverkehrbringen bereits einer umfassenden wissenschaftlichen Bewertung unterzogen wurden.

Der Generalanwalt ergänzt, dass sich an dieser Feststellung – ratione temporis – nichts dadurch geändert hat, dass 2015 eine Richtlinie (RL 2015/412) den Rechtsrahmen für genetisch veränderte Organismen in der Union erheblich geändert hat und dass die Kommission 2016 auf der Grundlage dieser Richtlinie MON 810-Mais in 19 Mitgliedstaaten, darunter Italien, untersagt hat. Die Richtlinie sei nach dem italienischen Dekret in Kraft getreten und betreffe andere Gründe. Auch sei Herr Fidenato vor Erlass der Richtlinie verurteilt worden.

EuGH, Schlussanträge d. Generalanwalts v. 30.3.2017 – C-111/16