Der Fehler eines Impfstoffs und der ursächliche Zusammenhang zwischen diesem Fehler und einer Krankheit (hier: Multiple Sklerose) können bei fehlendem wissenschaftlichem Konsens durch ein Bündel ernsthafter, klarer und übereinstimmender Indizien bewiesen werden. Dies hat der Gerichtshof der Europäischen Union mit Urteil vom 21.6.2017 entschieden. Nationale Vermutungsregeln zur Beweisführung seien hingegen unzulässig, da sie die Beweislastregel in der Produkthaftungsrichtlinie 85/374/EWG beeinträchtigen würden.

Zwischen Ende 1998 und Mitte 1999 wurde ein Familienangehöriger der Ausgangskläger mit einem von Sanofi Pasteur hergestellten Impfstoff gegen Hepatitis B geimpft. Von August 1999 an traten bei ihm verschiedene Beschwerden auf, die im November 2000 zur Diagnose einer Multiplen Sklerose führten. Im Jahr 2011 verstarb er. Bereits 2006 hatten er und seine Familie Klage gegen Sanofi Pasteur auf Ersatz des Schadens erhoben, der ihm durch den Impfstoff entstanden sei.

Das mit der Rechtssache befasste französische Berufungsgericht (Cour d’appel de Paris) stellte unter anderem fest, dass es keinen wissenschaftlichen Konsens gebe, auf den ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Impfung gegen Hepatitis B und dem Auftreten der Multiplen Sklerose gestützt werden könne. Es wies die Klage ab, da ein solcher ursächlicher Zusammenhang nicht bewiesen worden sei.

Der mit einer Kassationsbeschwerde gegen das Urteil befasste Kassationsgerichtshof (Cour de cassation) rief den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren an. Er wollte wissen, ob sich das Gericht auf ernsthafte, klare und übereinstimmende Indizien stützen könne, um den Fehler eines Impfstoffs und den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Impfstoff und der Krankheit festzustellen, obwohl ein wissenschaftlicher Konsens fehle und die Beweislast nach der Produkthaftungsrichtlinie 85/374/EWG beim Geschädigten liege. Im vorliegenden Fall wird insbesondere auf den ausgezeichneten früheren Gesundheitszustand des Verstorbenen, auf fehlende Vorerkrankungen in seiner Familie sowie auf den zeitlichen Zusammenhang zwischen der Impfung und dem Auftreten der Krankheit Bezug genommen.

Laut EuGH ist eine Beweisregel, wonach das Gericht auf der Grundlage eines Bündels ernsthafter, klarer und übereinstimmender Indizien auf einen Fehler des Impfstoffs und einen ursächlichen Zusammenhang zwischen diesem und einer Krankheit schließen kann, mit der Produkthaftungsrichtlinie vereinbar. Allerdings müsse aufgrund des Indizienbündels mit einem hinreichend hohen Grad an Wahrscheinlichkeit davon auszugehen sein, dass diese Schlussfolgerung der Wirklichkeit entspricht. Eine solche Regel würde die Beweislast des Geschädigten nicht umkehren, da er die einzelnen Indizien beweisen müsse.

Der EuGH gibt außerdem zu bedenken, dass der komplette Ausschluss anderer Beweisführungsarten als dem auf medizinischer Forschung beruhenden sicheren Beweis die praktische Wirksamkeit der Richtlinie und deren Ziele (Schutz von Sicherheit und Gesundheit der Verbraucher und Gewährleistung einer gerechten Verteilung der Risiken zwischen dem Geschädigten und dem Hersteller) beeinträchtigt würde. Denn es wäre dann übermäßig schwierig oder gar unmöglich, den Hersteller aus Produkthaftung in Anspruch zu nehmen.

Die nationalen Gerichte müssten allerdings sicherstellen, dass die vorgelegten Indizien tatsächlich hinreichend ernsthaft, klar und übereinstimmend sind, um den Schluss zuzulassen, ein Produktfehler erscheine unter Berücksichtigung auch der vom Hersteller zu seiner Verteidigung vorgebrachten Beweismittel und Argumente als die plausibelste Erklärung für den Schadenseintritt, so der EuGH weiter. Zudem müsse das nationale Gericht seine eigene freie Würdigung bezüglich der Frage, ob der Beweis rechtlich hinreichend erbracht worden ist oder nicht, bis zu dem Zeitpunkt bewahren, in dem es sich in der Lage sehe, zu einer endgültigen Überzeugung zu gelangen.

Im vorliegenden Fall vertritt der EuGH die Auffassung, dass die zeitliche Nähe zwischen der Verabreichung eines Impfstoffs und dem Auftreten einer Krankheit, das Fehlen einschlägiger Vorerkrankungen des Betroffenen und seiner Familie sowie das Vorliegen einer bedeutenden Anzahl erfasster Fälle, in denen diese Krankheit nach solchen Impfungen aufgetreten sei, den Anforderungen an den Indizienbeweis des beweisbelasteten Geschädigten genügen könnten. Dies könnte dem EuGH zufolge insbesondere dann der Fall sein, wenn das Gericht aufgrund dieser Indizien annehme, dass zum einen die Verabreichung des Impfstoffs die plausibelste Erklärung für das Auftreten der Krankheit darstellt und zum anderen der Impfstoff nicht die Sicherheit bietet, die man berechtigterweise erwarten darf.

Darüber hinaus führt der EuGH aus, dass weder der nationale Gesetzgeber noch die nationalen Gerichte eine Art der Beweisführung durch Vermutungen einführen könnten, die es gestattete, das Vorliegen eines ursächlichen Zusammenhangs automatisch zu begründen, wenn bestimmte konkrete, im Voraus festgelegte Indizien vorliegen. Denn eine solche Art der Beweisführung hätte zur Folge, dass die von der Richtlinie vorgesehene Beweislastregel beeinträchtigt würde.

EuGH, Urteil v. 21.6.2017 – C-621/15