Dass rituelle Schlachtungen ohne Betäubung nur in einem zugelassenen Schlachthof stattfinden dürfen, ist mit der EU-Grundrechtecharta vereinbar. Diese Ansicht vertritt der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs Nils Wahl in seinen Schlussanträgen vom 30.11.2017. Die EU-rechtlich begründete Pflicht, Tiere nur in zugelassen Schlachthöfen schlachten zu lassen, gelte allgemein und beeinträchtige daher nicht das Recht auf Religionsfreiheit.
Das islamische Opferfest wird jedes Jahr drei Tage lang gefeiert. Praktizierende Muslime sehen es als ihre religiöse Pflicht an, ein Tier – vorzugsweise am ersten Tag des Opferfestes – zu schlachten oder schlachten zu lassen, dessen Fleisch anschließend teilweise in der Familie verzehrt und teilweise mit Bedürftigen, Nachbarn und entfernteren Verwandten geteilt wird. Ab 2015 durften in Belgien Schlachtungen von Tieren ohne Betäubung generell nur in zugelassenen Schlachthöfen stattfinden. Zuvor waren rituelle Schlachtungen auch in Schlachthöfen erlaubt, die temporär zugelassen wurden, um die infolge der während des islamischen Opferfests höheren Nachfrage fehlende Kapazität der zugelassenen Schlachthöfe auszugleichen.
Aufgrund der Änderung verklagten 2016 mehrere islamische Vereinigungen und Moschee-Dachverbände die Flämische Region. Sie stellten unter anderem die Gültigkeit bestimmter Vorschriften der einschlägigen VO (EG) Nr. 1099/2009 über den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung in Frage, insbesondere im Hinblick auf die Religionsfreiheit. Das belgische Vorlagegericht (Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg te Brussel) rief den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren an. Es wollte wissen, ob die Vorgabe, rituelle Schlachtungen ohne Betäubung nur in den zugelassenen Schlachthöfen durchzuführen, mit der Religionsfreiheit vereinbar ist, da sie zahlreiche praktizierende Muslime daran hindern könnte, ihrer religiösen Pflicht nachzukommen.
Nach Ansicht des Generalanwalts Nils Wahl ist die Verordnung gültig. Die streitige Vorschrift des Art. 4 Abs. 4 der VO (EG) Nr. 1099/2009 schränke die Religionsfreiheit nicht ein. Die darin enthaltene Regel, dass Schlachtungen grundsätzlich nur in zugelassenen Schlachthöfen durchgeführt werden dürfen, sei eine vollkommen neutrale Regel, die unabhängig von den Umständen und der gewählten Art der Schlachtung gelte. Nach Wahls Auffassung hängt die vorgelegte Problematik eher mit einem konjunkturellen Kapazitätsproblem bei Schlachthöfen in bestimmten geografischen Gebieten anlässlich des islamischen Opferfests – und letztlich mit den Kosten, die bei der Befolgung eines religiösen Gebots entstünden – zusammen als mit den Anforderungen, die sich aus der EU-Regelung ergäben. Diese Regelung nehme einen Ausgleich zwischen der Religionsfreiheit und den Erfordernissen vor, die sich unter anderem aus dem Schutz der menschlichen Gesundheit, dem Tierschutz und der Lebensmittelsicherheit ergäben.
Wahl betont zudem, dass es nicht Sache des EuGH sei, darüber zu befinden, ob die islamische Religion den Rückgriff auf die Betäubung von Tieren tatsächlich verbietet. Es stehe dem EuGH nicht zu, darüber zu urteilen, ob bestimmte religiöse Lehrsätze oder Gebote als orthodox oder als heterodox einzustufen seien. Demzufolge sei die Schlachtung ohne Betäubung während des islamischen Opferfests sehr wohl ein religiöses Gebot, dem der Schutz der Religionsfreiheit zugutekomme, und zwar unabhängig davon, ob es innerhalb des Islam verschiedene Strömungen gebe oder Alternativlösungen für den Fall der Unmöglichkeit der Erfüllung dieser Pflicht.
Der Generalanwalt weist außerdem darauf hin, dass die islamischen Vereinigungen und Moschee-Dachverbände nicht behaupteten, dass die Pflicht, rituelle Schlachtungen in einem Schlachthof durchzuführen, als solche mit ihren religiösen Überzeugungen unvereinbar sei. Im Übrigen gäben diese nicht an, aus welchen grundsätzlichen Erwägungen die Bedingung, dass Schlachtungen von Tieren in zugelassenen Schlachthöfen durchgeführt werden müssten, unter dem Gesichtspunkt der Achtung der Religionsfreiheit problematisch sei. Die Pflicht sicherzustellen, dass alle Schlachtstätten zugelassen seien und die Bedingungen der EU-Vorschriften erfüllten, sei daher vollkommen neutral und betreffe jeden, der Schlachtungen durchführe. Rechtsvorschriften, die auf eine neutrale Weise ohne irgendeinen Zusammenhang mit religiösen Überzeugungen Anwendung fänden, könnten grundsätzlich nicht als eine Einschränkung der Ausübung der Religionsfreiheit angesehen werden.
Der Kapazitätsmangel und die Kosten, die die Schaffung neuer zugelassener Betriebe möglicherweise mit sich bringe, hätten keinen Zusammenhang mit der Anwendung der Verordnung über den Schutz von Tieren, so Wahl weiter. Die konjunkturbedingten Probleme bei den Schlachtkapazitäten hätten ebenfalls weder unmittelbar noch mittelbar etwas mit der Pflicht zu tun, zugelassene Schlachthöfe zu nutzen. Diese Schwierigkeiten wiesen vielmehr auf die Frage hin, wer die Kosten für die Schaffung solcher Betriebe zur Bewältigung der Nachfragespitze bei rituellen Schlachtungen während des islamischen Opferfests tragen müsse. Es gebe daher kein überzeugendes Argument für die Annahme, dass die EU-Regelung, die vollkommen neutral sei und allgemein gelte, eine Einschränkung der Religionsfreiheit begründe.
EuGH, Schlussanträge v. 30.11.2017 – C-426/16