Die EU-Mitgliedstaaten dürfen keine Sofortmaßnahmen in Bezug auf genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel treffen, wenn nicht von einem ernsten Risiko für die Gesundheit oder die Umwelt auszugehen ist. Dies hat der EuGH mit Urteil vom 13.9.2017 im Fall eines von Italien erlassenen Anbauverbots für MON-810-Mais entschieden. Das Vorsorgeprinzip sei keine ausreichende Grundlage für derartige Sofortmaßnahmen.
1998 ließ die Kommission das Inverkehrbringen von genetisch verändertem MON-810-Mais zu. In ihrer Entscheidung bezog sie sich auf eine Stellungnahme des Wissenschaftlichen Ausschusses „Pflanzen“, wonach es keinen Grund zu der Annahme gebe, dass dieses Erzeugnis eine Gefahr für Mensch oder Umwelt darstelle. 2013 verlangte die italienische Regierung von der Kommission, den Anbau von MON-810-Mais durch Sofortmaßnahmen zu verbieten. Sie begründete dies mit neuen wissenschaftlichen Studien zweier italienischer Forschungseinrichtungen. Die Kommission kam auf der Grundlage eines wissenschaftlichen Gutachtens der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) zu dem Ergebnis, dass es keine neuen wissenschaftlichen Beweise gebe, die die verlangten Sofortmaßnahmen rechtfertigen und ihre früheren Schlussfolgerungen zur Unbedenklichkeit von MON-810-Mais in Frage stellen könnten. Dennoch erließ die italienische Regierung im Jahr 2013 ein Dekret zum Verbot des Anbaus von MON-810-Mais in Italien.
2014 bauten der Angeklagte im Ausgangsverfahren und andere unter Verstoß gegen dieses Dekret MON-810-Mais an. Daraufhin wurde ein Strafverfahren gegen sie eingeleitet. Im Rahmen dieses Strafverfahrens rief das italienische Strafgericht (Tribunale di Udine) den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren an. Es wollte wissen, ob im Lebensmittelbereich Sofortmaßnahmen auf der Grundlage des Vorsorgeprinzips getroffen werden dürfen. Nach diesem Prinzip können die Mitgliedstaaten Maßnahmen treffen, um Risiken für die menschliche Gesundheit vorzubeugen, die aufgrund wissenschaftlicher Unsicherheiten noch nicht vollständig erkannt oder erfasst worden sind.
Der EuGH hat festgestellt, dass weder die Kommission noch die Mitgliedstaaten Sofortmaßnahmen in Bezug auf genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel (wie das Anbauverbot für MON-810-Mais) treffen dürfen, wenn nicht erwiesenermaßen von einem ernsten Risiko für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder die Umwelt auszugehen ist. Der EuGH betont, dass das Vorsorgeprinzip, das eine wissenschaftliche Unsicherheit hinsichtlich des Bestehens eines bestimmten Risikos voraussetze, für das Ergreifen solcher Maßnahmen nicht ausreiche. Dieses Prinzip könne zwar das Ergreifen vorläufiger Risikomanagementmaßnahmen bei Lebensmitteln im Allgemeinen rechtfertigen. Es erlaube aber nicht, die Bestimmungen für genetisch veränderte Lebensmittel beiseite zu lassen oder zu ändern – insbesondere zu lockern –, da diese Lebensmittel vor ihrem Inverkehrbringen bereits einer umfassenden wissenschaftlichen Bewertung unterzogen wurden.
Im Übrigen weist der EuGH darauf hin, dass ein Mitgliedstaat Sofortmaßnahmen auf nationaler Ebene ergreifen könne, wenn er die Kommission offiziell von deren Notwendigkeit in Kenntnis gesetzt und die Kommission nicht gehandelt hat. Außerdem könne er diese Maßnahmen beibehalten oder verlängern, solange die Kommission keinen Beschluss über ihre Verlängerung, Änderung oder Aufhebung erlassen habe. Unter diesen Umständen seien die nationalen Gerichte für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der betreffenden Maßnahmen zuständig.
EuGH, Urteil v. 13.9.2017 – C-111/16